Die Frankfurterin Claudia Hontschik leidet seit 29 Jahren an der chronischen Nervenkrankheit MS. Sie hat ein ergreifendes Buch über ihren Alltag geschrieben – und über Barrieren und Hindernisse mit Rollstuhl in Frankfurt.
Claudia Hontschik benutzt gern deutliche Worte. „Es ist ätzend, an den Rollstuhl gebunden zu sein. Meiner ist zwar sehr wendig, aber wenn Sie sich nur noch damit fortbewegen können, haben Sie ein Problem.“ Sie führt in ihrer Küche den ultraleichten Titan-Rollstuhl mit schickem, neongrünen Rahmen vor, dreht sich auf den Reifen um ihre eigene Achse. Auf der Straße nützt die Wendigkeit nichts: Unebene Bürgersteige oder Kopfsteinpflaster machen das Fortkommen zu einer Tortur, hohe Bordsteinkanten sind unüberwindbare Hindernisse. „Die Leute sind immer sehr freundlich und wollen mir helfen. Aber Spaß macht das nicht, nirgendwo mehr alleine hingehen zu können,“ sagt die 65-jährige Pädagogin und Supervisorin.
Alleine geht eigentlich kaum noch etwas. Das fängt morgens beim Duschen und Anziehen an. Ihr Mann hilft ihr dabei. Die Kraft reicht für viele Dinge nicht, die sie früher gerne gemacht hat. Kochen zum Beispiel ist im Rollstuhl ein Ding der Unmöglichkeit. „Jetzt muss ich immer anderen bei den Dingen zusehen, die ich eigentlich gern selbst machen würde.“ Das fühlt sich an wie eine Kränkung. Und: Im Rollstuhl sitzt Claudia Hontschik stets eine Etage tiefer als ihre Gesprächspartner. „Man spricht nicht auf Augenhöhe. Wenn ich Gäste einlade, sehe ich immer zu, dass auch sie sitzen“, erklärt die 65-Jährige.
In ihrem kürzlich im Westend-Verlag erschienenen Buch „Frau C. hat MS“ beschreibt Claudia Hontschik den Horror ihrer Erkrankung an Multipler Sklerose, kurz: MS, von der Diagnose vor 29 Jahren, damals, als die beiden Kinder noch klein waren, über die jahrelange, unvermeidbare Verschlechterung bis hin zum Status Quo: Laufen geht gar nicht mehr. Das zentrale Nervensystem wird von der MS angegriffen, so dass die Muskeln nicht mehr gesteuert werden können. „Ich spüre meine Beine ja – aber sie reagieren nicht,“ sagt Hontschik.
Die Beine wurden irgendwann zu schwach für die geliebten Fahrradtouren in den Holzhausenpark. Auch das Auto, Sinnbild der Bewegungsfreiheit, musste abgeschafft werden. „Ich konnte nicht mehr zu ihm hinlaufen und auch nicht mehr einsteigen“. Das hohe Gut der Freiheit existiere eben nicht nur im Kopf: „Zu wirklicher Freiheit gehört eben auch die Bewegungsfreiheit“, schreibt Claudia Hontschik. Gerade ihr, die im Taunusstädtchen Neu-Anspach aufwuchs, war die Fortbewegungsfreiheit schon als Jugendliche wichtig. Mit 16 Jahren kaufte sie sich ein Mofa, „damit ich mich nicht mehr von meinem Vater überall abholen lassen musste.“
Nun sitzt sie in ihrer Küche in der Wohnung im Westend, die sie ungern noch verlässt. Sie lässt den Blick über ihren Balkon schweifen, zu den Baumwipfeln der Gärten im Hinterhof. „Ich kann hier an allen Jahreszeiten teilhaben.“ Ein Gärtner pflegt den Balkon, bepflanzt regelmäßig die Blumenkästen. Vögel landen auf dem Springbrunnen, der ein Überbleibsel ist aus dem Garten des alten Hauses am Dornbusch, in dem sie mit Mann und zwei Kindern jahrzehntelang lebte. Das Haus konnte nicht ausreichend barrierefrei umgebaut werden.
„Die Stadt,“ sagt sie, „macht mir als Behinderter das Leben schwer.“ Ausflüge in die Innenstadt hasst sie, vor allem, weil es zu wenige behindertengerechte Toiletten gibt. Für öffentliche Gebäude gilt das Gleichstellungsgesetz – aber die Mehrheit der übrigen Bauherren kümmert sich nicht um Barrierefreiheit. „Es ist die Pest: Da werden Wohn- und Geschäftshäuser komplett neu gebaut, aber an die Rollstuhlfahrer denkt keiner. Ich verstehe es nicht!“, regt sich Claudia Hontschik auf. „Es ist die strukturelle Gedankenlosigkeit, die mich so ärgert.“ Die meisten Läden haben Stufen am Eingang oder sind zu eng – „da kommen Sie gar nicht erst rein.“ Barrierefreie Restaurants, wo es genug Platz zum Rangieren gibt, seien in Frankfurt rar gesät. Es gibt keine Spontanität mehr, alles muss geplant werden. Im Frankfurter Schauspiel gebe es genau vier Plätze für Rollstuhlfahrer, die man nicht im Abo reservieren kann.
Es sind diese Dinge, die Claudia Hontschik dazu bewogen haben, das Buch zu schreiben. Anderen aus einer Welt zu erzählen, die ihnen fremd ist. Die Welt derjenigen, die aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, obwohl es nicht nötig wäre. Der Untertitel „Wenn die Nerven blank liegen“, unterstreicht das Gefühl der Verzweiflung. Das lakonische Buch erhält viele Informationen zu MS, und auch Positives lässt Hontschik, die trotz allem ihren Humor bewahrt hat und viel lacht, durchscheinen – ihre Freude etwa an der Pediküre, die sie per Hausbesuch bekommt.
Abhilfe vom Nervenstress bringen auch Autogenes Training und die Feldenkrais-Bewegungsmethode. „Wenn ich beim Feldenkrais war, kann ich von hier bis zum Schrank laufen.“ Claudia Hontschik deutet auf den etwa drei Meter langen Freiraum zwischen Flur und Wohnzimmerschrank. Ein kleines Stück Bewegungsfreiheit – immerhin. Die Hoffnung auf Heilung oder zumindest Besserung hat sie nicht aufgegeben. Auf einen Durchbruch in der Forschung. Auch wenn ihr die Erfahrung etwas anderes sagt und Pharma-Unternehmen vorgeworfen wird, altbekannte Medikamente neu zu verpacken und teurer zu verkaufen. Trotz allem. „Ohne Hoffnung geht es nicht.“
Claudia Hontschik, „Frau C. hat MS – Wenn die Nerven blank liegen“; Westend-Verlag, 121 Seiten, 16 Euro